Darf ich vorstellen: Die Dicke (Teil I)

Ich war schon immer ein stämmiges & kräftiges Kind, zumindest im Kindergartenalter. Damals war mir das noch nicht so bewusst, erst später, als ich mir alte Fotos anschaute. 
Auch in der Grundschule war ich wesentlich dicker als andere, wurde oft gehänselt deshalb: "Die Dicke kommt wieder nicht vom Fleck." oder beim Sport "Nein, die soll nicht in meiner Mannschaft sein, die ist viel zu dick zum Rennen."

Dick. Dick. Dick.

Bereits im Alter von acht Jahren habe ich meine erste Diät, eine Trennkosternährung, gemacht. Meine große Schwester und auch meine Mama machten mit. Diäten, Körperbild und "dick-sein" waren schon immer große Themen in der Familie. "Wir haben halt schwere Knochen" oder "in unserer Familie sind die Frauen nunmal kräftig" hörte ich nicht nur ein Mal...

Mein Gewicht war schon im Kindesalter eine wilde Achterbahnfahrt. Nie zu wenig bzw. im Untergewicht, aber immer ein Wechsel zwischen Normal- und Übergewicht. 
Als ich dann kurz vor meinem 10. Geburtstag Diabetes bekam nahm das Schicksal seinen Lauf. In der Klinik, in der wir in regelmäßigen Abständen zur Kontrolle waren, wurde mein leichtes Übergewicht immer stark thematisiert. Ich wurde nicht für gute Blutzuckerwerte und diszipliniertes Insulinspritzen gelobt, nein, der Lob galt ausschließlich meinem Gewicht. 
"Besonders erfreulich ist, dass Lesley-Ann seit dem letzten Termin in unserer Sprechstunde 700g Körpergewicht verloren hat."
Diesen und viele, viele ähnliche Sätze prägten die Arztbriefe dieser Klinik. Aber auch negativformulierte Anmerkungen waren zu gegebener Zeit Bestandteil der Unterlagen und Gespräche.
"Bei diesem Essverhalten ist es kein Wunder, dass Lesley-Ann traurigerweise wieder 500g Körpergewicht zugenommen hat."
Natürlich habe ich als Kind und Jugendliche diese Arztbriefe gelesen und ehrlich gesagt glaube ich auch, dass diese Formulierungen bezüglich meines Gewichts prägend waren und sind.
Neulich habe ich mir den Spaß erlaubt und mal alle Sätze, Absätze und Anmerkugen, die in den - wohlbemerkt - diabetologischen Arztbriefen vorkamen angestrichen. Das war ein buntes Erlebnis kann ich euch sagen! 

Der Diabetes, das häufige Spritzen und auch das Berechnen der Lebensmittel waren zunächst aufregend und spannend. Mit der Pubertät kamen aber natürlich die ein oder anderen Differenzen mit Mama und aufregend war das Ganze schon lange nicht mehr. Es war nervig und jedes Spritzen war in meinem Kopf ein Spritzen zu viel...

So häufig spritzt ein Diabetiker monatlich sein Insulin

Im Alter von 18 Jahren, kurz vor meinem 19. Geburtstag, zog ich dann zu Hause aus. In meiner eigenen Wohnung war ich sicher, keiner bemerkte, wie oft ich spritzte - oder eben auch nicht. Diabetes war defintiv zweitrangig. Da gab es doch viel Wichtigeres: Lernen, arbeiten, fleißig sein, das Aussehen,... Ja, vor allem das Aussehen. Das war plötzlich Priorität Nummer 1.
Ich war jetzt lange genug - so glaubte ich - dick, hässlich und unbeliebt, das sollte ein Ende haben! Ich sagte den Kilos den Kampf an. Aber nicht wie die letzten Male mit Trennkost, FDH, Kalorienzählen, Kohlsuppendiät und ausreichend Sport. Ich hatte da etwas viel, viel besseres und vor allem leichteres gefunden: Hohe Blutzuckerwerte schmilzen mein Fett und lassen mich abnehmen! Also war die Devise: Essen, ohne die Lebensmittel zu berechnen und ohne dafür zu spritzen. Na wenn das mal nicht einfach war...
 
Im Alter von 18 Jahren

Ich hatte also zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Ich musste mich nicht mehr um meinen Diabetes kümmer UND war auf dem besten Weg zu meiner Traumfigur! Was will man mehr?! 
Zunächst konnte ich noch super essen, mir schmeckte alles wie zuvor, oder sogar noch besser, weil ich wusste, dass es nicht "ansetzen" würde. 

Die ersten Kilos schwanden und die Komplimente aus meinem Umfeld waren nicht zu überhören:
"Mensch, endlich schiebst du nicht mehr diese Wampe vor dir her!"
Die Komplimente waren großartig und ich fühlte mich mehr als bestätigt das Richtige zu tun, also machte ich genau so weiter. Essen, ohne vorher den Blutzucker zu messen und erst recht ohne anschließend dafür zu spritzen. Alles fühlte sich so einfach, leicht und wundervoll an. Erst mal... Denn so wie vieles im Leben hatte auch dieser zunächst perfekte, einfache und schöne Weg seine Schattenseiten.
Lesley 


 Teil II folgt.

 
 
 

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